Ljóðheimar og sagna
vefsíða Pjeturs Hafsteins Lárussonar


Aftur á forsíðu

DIE STRAFE

Kurzgeschichte von Pjetur Hafstein Lárusson

Übersetzer: Franz Gíslason

        — Noch schlägt sie ihre zehn Schläge, die dunkel lautende Uhr. – Wie oft habe ich wohl diesen Umschlag angefasst, ihn durch meine Finger gleiten lassen – ihn geöffnet? Den Brief herausgenommen – einen Brief von zwei Seiten, ihn vor den Augen gehalten und die Wörter erraten, die dort vermutlich geschrieben sind? Ich habe sogar mehrmals die Schrift überlegt, die ich jedoch nie gesehen habe. Ich nehme an, die Schrift sieht gut aus. Dies basiert aber möglicherweise nicht eher als andere Annahmen auf Argumenten.
        Genau so wie die Schrift ist mir der Inhalt dieses Briefes verborgen. Ich stecke ihn in den Umschlag wie so unzählige Male zuvor. Tue ihn in die Tasche. Ich habe schon längst die Hoffnung aufgegeben, den Brief je lesen zu können. Ob es deshalb ist, dass ich ihn mit besonderer Sorgfalt anfasse, sogar mit Respekt?
        Um mich herum ist alles schwarz. Schwarzes Dunkel – dicht wie ein straff gewobenes Tuch. Ich habe gar kein Zeitgefühl mehr. Mein Raumgefühl wird durch diese undurchdringlichen Wände, die mich umgeben, geprägt. Wenn ich erwache, erwache ich dem Dunkel. Licht zeigt sich mir nur im Traum. Ich träume gern Sonnenstrahlen. Sie werfen Licht auf eine tiefe Stelle im Wasser. In diese Untiefe stürzt ein hoher aber nicht breiter Wasserfall. Fall dies ein Bild aus meiner Vergangenheit ist, dann habe ich es vergessen. Das meiste habe ich vergessen. Und es gelingt mir nicht das wenige, an das ich mich erinnere, in einen logischen Zusammenhang zu bringen.
        Ich erinnere mich nicht, in welcher Angelegenheit ich dort war. Wahrscheinlich bin ich einfach spazieren gegangen ohne ein anderes Ziel zu haben als spazieren zu gehen. Es ist mir auch nicht klar, wo ich war. Doch ich erinnere mich daran, dass das Haus abseits stand. Und ich denke, dass ich dort schon früher gegangen bin. Das ist jedoch nicht sicher. Aber an diesem erwähnten Tag habe ich den Umschlag gefunden. Er lag ohne Anschrift kurz vor dem Haus. Ich habe angenommen, er gehöre jemandem, der im Haus wohnte. An der Haustür gab es keine Klingel, so dass ich an die Tür geklopft habe. Wahrscheinlich habe ich etwas kräftig geklopft, jedenfalls fiel die Tür aus dem Rahmen. Ich habe mich geräuspert und ins Haus hinein gerufen. Es kam keine Antwort.
        Gleich innerhalb der Tür stand ein kleiner Tisch. Es schoss mir durch den Kopf, das richtigste sei, den Umschlag darauf zu legen und mich dann wegtun. Aber ich habe es nicht getan; wahrscheinlich habe ich daran gezweifelt, dass ein Umschlag ohne Anschrift jemandes Aufmerksamkeit wecken würde. Es sei denn die Neugierde hat mich vorangetrieben. Wie dem auch sei ging ich herein. Ich habe nochmals gerufen und immer noch kam keine Antwort. Nein, ich weiβ nicht, was mich gezwungen hat, wie ein beliebiger Eindringling in dieser unbekannten Wohnung herumzugehen. Es war eine nette Wohnung, aber ohne jeglichen Prunk. Sie war nicht geräumig. Offentsichtlich hat dort ein älteres Ehepaar gelebt. Die ganze Wohnung hat von der Kultiviertheit und Anspruchslosigkeit der Besitzer gezeugt.
        Wie konnte es sein, dass ich das Gefühl hatte, ich solle diese Wohnung kennen, auch wenn ich dort keinen Gegenstand kannte? Es war fast als sei die Atmosphäre mir auf irgendeine Weise nicht fremd. Eine alte Sinnesanregung drang auf mich ein. Eine alte Sinnesanregung.
        Ich bin nicht der Typ, der in den Räumen anderer herumschnuppert. Deshalb habe ich einen günstigen Platz gesucht den Umschlag hinzulegen, damit ich das Haus so schnell wie möglich verlassen konnte. Natürlich kann man sagen, die Küchenbank sei in dieser Beziehung ein geeigneter Platz gewesen. Einen Umschlag neben dem Abwaschbecken könnte kaum jemand vermissen. Und wahrscheinlich war der kleine Tisch neben der Haustür trotz allem kein ungünstiger Platz. Ja, am besten den Umschlag dort hinlegen.
        Im selben Augenblick als ich nach der Türklinke griff, nachdem ich den Umschlag weggelegt hatte, geschah es! Ich bringe mich kaum dazu, es zu erzählen, so unglaublich wie es ist. Wollen nicht alle, dass man ihnen glaubt? Trotzdem ist dies aber geschehen.
        Es wäre mir gar nicht sonderbar, geschweige denn übernatürlich, vorgekommen, wenn die Türklinke festgesteckt hätte. Und das war es eben, was sie tat. Sie war unverrückbar, gleich wie ich an ihr getobt habe. Das andere fand ich merkwürdiger, dass es eben dann, als ich die Klinke anfasste, im Haus stockfinster wurde. Zuerst habe ich gedacht dies erfolge aufgrund einer Diebstahlsalarmanlage, von der ich nie etwas erfahren hätte. Das konnte durchaus sein, zumal ein verschlossener Mensch wie ich viele Dinge verpasst.
        Ich habe es bald aufgegeben zu versuchen, die Tür zu öffnen. Statt dessen habe ich beschlossen durch ein Fenster herauszuschlüpfen. Ich habe mich in der Dunkelheit vorangetastet. Hoffentlich war es leicht die Fenster aufzumachen. Und hoffentlich ging niemand gerade am Haus vorbei, wenn ich herauskroch. Es würde schlecht um mich stehen, falls die Polizei von der Angelegenheit Wind bekäme. Der Gedanke war niederdrückend.
        Es hat sich aber bald herausgestellt, dass ich mir darüber keine Sorgen zu machen brauchte. Ich bin an allen Wänden des Hauses entlanggeschlichen, sogar an den Innenwänden. Ich habe sie mit den Händen abgetastet in der Gewissheit, im nächsten Moment würden meine Handflächen Fensterglas berühren oder, falls ich Glück hätte, eine Hintertür.
        So sollte es aber nicht ausgehen. Es war nicht nur, dass es keine Hintertür gab; sämtliche Fenster des Hauses waren verschwunden! Als mir dies klar wurde, wurde mir sehr bange. Trotzdem hatte ich volle Kontrolle über mir selbst, zumal es mir gelingen musste durch die Tür auszubrechen, auch wenn ich sie nicht auf normale Weise aufmachen konnte. Meine Angst schlug aber in Panik um, als es mir aufging, dass die Tür auch verschwunden war. Es gab keinen Weg raus!
        Nachdem ich eine Weile dort gestanden hatte, wo sich die Haustür befunden hatte, gelähmt durch Schrecken und dementsprechend hilflos, habe ich mich nochmals durchs Haus getastet. Ich kam gleich zum Tisch, wo ich den Umschlag hingelegt hatte, und auch wenn es mir selbstverständlich klar war, dass ich seinen Inhalt nicht lesen konnte, habe ich ihn in die Tasche gesteckt. Ich habe nicht weiter einen Ausweg gesucht; wusste schon, dass er nirgends zu finden war. Ich habe bald erkannt, dass abgesehen davon, dass man nirgends herauskam, alles im Hause unverändert zu sein schien, seitdem ich hereinkam. Das hat mich, wie dem auch sei, ruhiger gemacht.
        Nein, ich weiβ nicht, wie lange ich innerhalb der Wände dieses Hauses eingeschlossen gewesen bin. Monate? Jahre? Das ist mir verborgen. Ich gebe mich einfach damit ab, was geschehen ist, zumal es mir eigentlich nicht schlecht geht. Zwar sehe ich nichts, aber hier gibt es allen Komfort; bequeme Stühle, ein gemütliches Bett und das, was ich sonst brauche, damit ich mich gut fühle. Und auch wenn es sonderbar scheint, habe ich keinen Bedarf für Essen. Mir genügt das Wasser aus dem Hahn. Nein, mir geht es nicht schleht.
        Immer sind sie zehn, diese dunkel lautende Schläge der Standuhr im Wohnraum. Ich habe sie nie aufgezogen, ist auch nicht nötig, sie geht nichtsdestoweniger. Auch wenn ich die Zeit nicht verfolgen kann und, beim Stand der Dinge, sowieso kein Interesse daran habe, leuchtet es mir ein, dass sie nicht mit regelmässigen Abständen schlägt. Manchmal sind die Abstände kurz, manchmal lang. Aber die Schläge sind immer zehn. Da die Uhr mit so verschiedenen Abständen läutet, ist es klar, dass diese zehn Schläge mir nicht sagen sollen, wie die Zeit vergeht, in der Menschen leben und sich bewegen, zumal sie niemandem schlägt auβer mir. Dies ist die Uhr meiner Zeit oder, vielleicht richtiger ausgedrückt, meiner Zeitlosigkeit. Nun beginnt sie, die unbekannte Stunde, die zeitlose Stunde.
           Ich male Bilder auf die Dunkelheit. Anfangs habe ich ausschlieβlich Bilder vom Inventar des Hauses gemalt, so wie ich mich an es erinnerte, nach den wenigen Minuten, in denen es meine Augen erkannten. Dann habe ich alles abgetastet, was sich hier befindet, wie ein Blinder; habe dessen Form und Grösse, dessen Sanftheit und Härte gelernt. Dadurch wurden die Bilder exakter. Schlieβlich begann ich, meine Gedanken auf die Dunkelheit zu malen. Diese Bilder sind immer hell, als Gegengewicht zur Dunkelheit, an die sie gemalt sind und die mich umgibt. So verbringe ich meine Stunden, wenn ich wach bin, während Träume darauf warten, dass ich durch ihre Länder reise.
        Und dann schlägt sie, die Standuhr, ihre zehn Schläge, und verwischt die Bilder, die ich gemalt habe, seitdem sie das letzte Mal schlug. Zu Beginn war ich darüber etwas verärgert. Aber das sollte sich ändern und jetzt freue ich mich, nicht zu viel Bilder auf diese Dunkelheit sammeln zu müssen. Denn auch wenn dies eine grosse Dunkelheit ist, pechschwarz und undurchdringlich, dann weiβ ich, dass sie nur innerhalb der Wände dieses Hauses ist. Was nun, falls die Fenster wieder erscheinen sollten und das Licht wie tanzend-glitzige Fäden durch sie hineinfluten? Ja, und was wenn die Haustür sich diesem ganzen Licht öffnen würde? Wäre ich dann frei herauszugehen, tun als die Dunkelheit nur eine Sinnestäuschung gewesen sei, eben ein totales Missverständnis? Wahrscheinlich. Meine Hoffnungen knüpfen sich aber nicht mehr daran, dass das passiert. Die Dunkelheit hat mir eine neue Sicht gegeben und ich bin ganz sicher, das Licht würde mich nur blenden.
        Ich male noch ein Bild auf die Dunkelheit, male eine gelbe Ferne; eine zweiteilige gelbe Ferne, getrennt durch eine rote Linie. Und ich weiβ, dass sie bald wieder ihre zehn Schläge schlagen wird, die dunkel lautende Uhr.

 


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